Freier Wille

Ein junger Schüler drängte seinen Meister – einen Meister der Mystik – wiederholt mit großer Ungeduld, ihm doch sein größtes Geheimnis zu verraten. Der Meister hatte es mit großer Mühe nach vielen Jahren der Erfahrung geschafft, einen der mächtigsten Poltergeister unter seine Kontrolle zu bringen. Jetzt hielt er ihn in einer Flasche gefangen. Der Meister sagte zu seinem ungeduldigen Schüler, dass man, wenn man ihn von seiner Gefangenschaft befreien würde, ihn ständig beschäftigen müsste. Nur wenn er freiwillig seine Niederlage zugäbe, könnte er wieder gefangen genommen werden. Der unerfahrene Schüler meinte, dass dies sehr einfach sei, wenn er an seine unzähligen Wünsche dachte, die er erfüllt haben wollte.

 

Der Meister konnte nichts anderes tun, als sich einverstanden zu geben. Er rief den Poltergeist herbei und befahl ihm, den Jungen als neuen Meister für seinen Dienst anzunehmen. Der Poltergeist verbeugte sich und sprach mit tiefer Stimme: „Ich stehe zu Ihren Diensten.“ Er war riesig groß und furchterregend, nahm sein langes Schwert aus der Scheide und rief: „Wehe, du hast keine Beschäftigung für mich! Dann schneide ich dir den Kopf ab!“

 

Daraufhin befahl ihm der Junge raufhin befahl ihm der Junge, einen großen prächtigen Palast zu errichten. Dies war in wenigen Tagen vollbracht. Schon stand der Geist mit gezücktem Schwert für den nächsten Befehl bereit. Der Junge zählte all seine Wünsche auf, wie eine prachtvolle Innenausstattung des Palastes, einen Park, eine Kutsche mit Pferden, Spielzeuge, Teiche, Tiere usw. Der Poltergeist hatte im Nu alles bereitgestellt, und weckte ihn manchmal mitten in der Nacht auf, um die nächsten Befehle zu erhalten. Weil er sich ununterbrochen neue Befehle ausdenken musste, um den Diener beschäftigt zu halten, fand er nicht die geringste Zeit für Essen und Schlafen. Erschöpft und ohne weitere Wünsche rannte er zu seinem Meister und flehte ihn an, ihn vor dem Poltergeist zu beschützen, der auch schon hinter ihm hergerannt kam. Bewegt von Mitleid gab er dem Jungen den Rat, eine hohe Säule bauen zu lassen, an der der Poltergeist bis zum Gipfel hinaufklettern sollte. Und wenn er den Gipfel erreicht habe, solle er sofort wieder herunter rutschen, um dann erneut wieder hoch zu steigen. So solle er weitermachen bis er neue Befehle erhalte. So wurde der Poltergeist unter Kontrolle gebracht.

 

Die Kraft des kontrollierten Geistes

Der Poltergeist ist wie der Geist des Menschen. Das Geheimnis des Meisters war, die Kraft zu entwickeln, den Geist unter Kontrolle zu bringen und sich aus der Gefangenschaft des unkontrollierbaren Geistes zu befreien. Ein unkontrollierter Geist vergeudet seine eigene Kraft, führt den Menschen in die Irre und hält ihn in Illusionen gefangen, wohingegen ein kontrollierter Geist Wunderbares schaffen kann.

 

Seit Tausenden von Jahren wird über das Thema „Die Kraft des Geistes“ in allen Kulturen  diskutiert. Die vedischen Schriften, vor allem die Upanisaden, sind es, die hierfür eine Erklärung anbieten. Da steht, dass die Lebewesen zwei Arten von Körper besitzen, einen grobstofflichen und einen feinstofflichen. Der grobstoffliche Körper, der einen Mikrokosmos darstellt, gleicht dem Makrokosmos des Universums. Er besteht ebenfalls aus einer Mischung der fünf grobstofflichen Elemente: Erde, Wasser, Feuer, Luft, Äther oder Raum. Und der feinstoffliche Körper ist die Energie der Seele, die als Bewusstsein bezeichnet wird. Das Bewusstsein besteht, entsprechend dem Umgang des Selbst mit der phenomenalen Welt, d. h. mit der es umgebenden materiellen Natur, aus drei Teilen: Geist, Verstand und Ego. In vielen Kulturen wird das Bewusstsein mit „Geist“ gleichgesetzt.

Yogis, die dem Pfad des achtteiligen mystischen Yogas nach den Pantanjali-Sutra-Schriften folgen, entdecken die unvorstellbare Kraft des Geistes. Durch dieses mystische Yoga erlangt man verschiedene Geisteskräfte wie z. B. „laghima-siddhi“, d.h. leichter als Luft zu werden, „anima-siddhi“, sehr klein zu werden, „garima-siddhi“, riesig und schwer zu werden, „prapti-siddhi“ ,alles, was man sich wünscht, zu erhalten usw.

 

Den feinstofflichen Körper wahrnehmen

Alle Lebewesen  sind spirituelle Seelen, d.h. sie sind empfänglich für geistige und spirituelle Kräfte. Ihre bloße Identifizierung mit dem grobstofflichen, aber der Begrenztheit unterworfenen Körper, der für sie das wahre Selbst ist, hält deshalb ihre Geisteskraft gefangen. Das bedeutet, unsere Wahrnehmung bleibt auf die fünf Sinne, die unvollkommen sind, begrenzt, da sie der Täuschung unterworfen sind. Wer kann mit bloßen Augen Mond und Sterne am Tag und die Sonne in der Nacht sehen, obwohl sie doch immer am Firmament stehen?

 

Da die Lebewesen einzig und allein den materiellen, grobstofflichen Körper für das wahre Selbst halten und sich ununterbrochen mit ihm beschäftigen und identifizieren, verschließt sich ihnen die Möglichkeit, den anderen Teil ihres Wesens, d. h. ihren feinstofflichen Körper, wahrzunehmen. Deshalb bleibt für sie für immer die Zukunft im Dunkeln und die Vergangenheit in Vergessenheit. Ohne den feinstofflichen Körper und dessen Vielfältigkeit kennenlernen zu wollen, ist es nicht möglich, die uns innewohnende Kraft des Geistes zu erfahren. Alle Informationen, die wir über unseren grobstofflichen Körper und dessen Aktivitäten besitzen, rührt von der Kraft dieses feinstofflichen Körpers her.

 

Der Geist ist vom Körper unabhängig

Im Schlaf sind sich die Menschen ihres grobstofflichen Körpers nicht bewusst, aber die Erinnerung an den Traum beweist uns, dass der Geist aktiv ist und unabhängig vom grobstofflichen Körper handelt. Im Wach-Zustand, in dem die Identität mit dem grobstofflichen Körper in den Vordergrund tritt, limitieren wir die Aktivitäten unserer Geisteskraft sehr oft auf die körperlichen Ebene. Dabei vergessen wir die unbegrenzte und vom Körper unabhängige Kraft des Geistes. Diese schlummernde Kraft des Geistes muss nicht nur wachgerufen, sondern auch diszipliniert werden. Wenn die Kraft des Geistes nicht diszipliniert wird, kann es für einen selbst und für andere katastrophal werden.

 

Telepathie ist die einfachste Aufgabe eines kontrollierten Geistes. Hier zeigt sich, dass mit minimalem Kraftaufwand und ohne jegliches Gerät eine Kommunikation mit einer anderen Person hergestellt werden kann. Im Raum oder Äther ist das Schicksal eines Menschen in unmanifestierter Form, jedoch in Code-Form latent vorhanden. Ein Mensch mit einem hochent-wickelten Geist kann die Code-Form von sich selbst und von anderen Personen entziffern und das Schicksal wahrnehmen. Die unbegrenzte Kraft des Geistes offenbart sich uns allmählich oder in dem Maße, in dem man sich von der Knechtschaft der Unwissenheit befreit.

Ob es einen freien Willen gibt oder nicht, beantwortet sich mit einer Gegenfrage: Ist man verantwortlich für seine Handlungen?

 

Wenn man nach freiem Willen handeln will, muss man konsequenterweise auch das Resultat hinnehmen. Wenn alle unsere Handlungen hingegen von einer höheren Kraft oder einem Schicksal bestimmt werden, dann sind wir von jeglicher Verantwortung befreit. Gemäß den vedischen Schriften – den Gesetzen des Karmas – muss der Handelnde für die Konsequenz, die Frucht seiner Handlungen, entweder leiden oder er kann sie genießen.

 

Dieser Text wurde im SEIN-Magazin Berlin 2/06 veröffentlicht